Seitenwind kann ein ganzes Peloton und ein eingespieltes Team innerhalb von Sekunden auseinanderreißen. Er kann einen Rennfahrer auf einer Etappe Minuten kosten und seine Hoffnungen auf die Gesamtwertung zerstören. Man kann aber auch lernen, ihn zum eigenen Vorteil zu nutzen. Begleite uns also nach Flandern und finde heraus, wie man mit Seitenwind fertig wird.
Finde deinen Platz im Echelon
Das Fahren bei Seitenwind gehört zu den schwierigsten Herausforderungen bei Radrennen, denn im Vergleich zum Erklimmen eines Gebirgspasses oder der Teilnahme an einem Massensprint ist es deutlich unberechenbarer. Durch das Lesen des Windes, eine genaue Kenntnis der Regeln und Straßen sowie eine optimale Technik kannst du es schaffen, Schritt zu halten, dich zu behaupten und vielleicht sogar ein überraschendes Ergebnis zu erzielen.
In jeder Radsport-Saison gibt es harmlos aussehende Grand-Tour-Übergangsetappen. Sie sind überwiegend flach und dienen dazu, von einem Teil Italiens, Frankreichs oder Spaniens in einen anderen zu gelangen. Die Route führt in der Regel über breite, schnurgerade Regionalstraßen, die sich kilometerlang hinziehen. Wenn dann auf diesen Abschnitten der Wind anständig bläst, sind die Veranstalter zufrieden.
Denn eine Gruppe von Profis, die um ihre Position kämpft und darum ringt, am Rad des Vordermanns dranzubleiben, kann für einen Fan zu den spannendsten Momenten eines Rennens gehören – und zu den nervenaufreibendsten für einen Fahrer. Brecht Dhaene, ehemaliger Radprofi und aktueller Kapitän des Team Bataia, erklärt: „Die Bildung von Staffeln oder einer Paceline macht den meisten Fahrern Angst, denn wenn du zurückfällst und abgehängt wirst, verlierst du viel Zeit beim Versuch, die Lücke zur voranfahrenden Gruppe wieder zu schließen. Doch als Team kann man das Rennen richtig tough machen und manchen Gegner in den Schwitzkasten nehmen – man muss nur wissen wie.”
Flieg wie ein Flandrien
„Wie man sich vorstellen kann, scheinen Fahrer aus bestimmten Ländern diese spezielle Taktik besser zu beherrschen als andere. Du brauchst ordentlich Power, um permanent Watt zu liefern, jede Menge Selbstvertrauen, und ein gutes Bike-Handling sind auch nicht verkehrt. Die belgischen und holländischen Fahrer gewöhnen sich schon als Junioren daran, auf flachen Strecken gegen den Wind anzukämpfen. Deshalb ist es keine Überraschung, dass starke belgische, holländische und auch britische Fahrer oder echte ‚Flandriens‘ wie Stefan Küng oder Nils Politt an der Spitze zu finden sind, wenn der Wind an Geschwindigkeit zulegt.“
Da ist es naheliegend, dass wir uns mit Dhaene und seinen Leuten zusammensetzen, um mehr über das Wissen, die Psyche und die Ausrüstung zu erfahren, die einen bei solch widrigen Bedingungen zu einem stärkeren Fahrer machen können. Das Team Bataia, das zu einem erstklassigen Fahrradladen in Gent gehört, ist eines der coolsten da draußen. Sein Slogan täuscht allerdings: Ja, sie sind im Prinzip „nur zum Feiern hier“, doch das tun sie, während sie ihren Gegnern wahrlich den Boden unter den Füßen wegreißen – vor allem, wenn sie als Team gegen den Wind ankämpfen. Da sie viel in der belgischen Region De Moeren unterwegs sind, die für ihren heftigen Gegenwind berüchtigt ist, wissen sie, was zu tun ist, wenn die Böen von der Nordsee kommend über das öde, flache Ackerland fegen, das kaum Möglichkeit zum Schutz bietet.
Ab dem Senken der Flagge
Zunächst einmal muss man sich einen Streckenabschnitt suchen, auf dem der Wind leicht von der Seite und hinten kommt. „So kann man ein ordentlich hohes Tempo erreichen. Am besten sucht man sich eine typisch belgische Straße, schnurgerade, keine Bäume, keine Häuser und nicht einmal ein Maisfeld am Straßenrand“, sagt Brecht. „Der Wind sollte dich möglichst kontinuierlich antreiben. Als nächstes solltest du dann versuchen, dich aus dem Wind herauszuhalten, indem du dich im so genannten ‚Windschatten‘ des Fahrers versteckst, der halb vor dir fährt. Positioniere dich auf vier beziehungsweise acht Uhr, um in den geschützten Bereich des Vordermanns zu gelangen.“
„Und jetzt geht der Spaß erst richtig los. Du hoffst, dass sich andere Fahrer in die Richtung, aus der der Wind bläst, zum Straßenrand hin positionieren, um möglichst viel Platz für weitere Fahrer zu schaffen. Allerdings kommt hier die Team- und Renntaktik ins Spiel. Das haben wir bei vergangenen Tour de France-Etappen gesehen, wie zum Beispiel bei der Etappe 12 des Rennens von 2021. Sprinter wie Cavendish und Bouhanni dachten, dass die hügelige Etappe nach Nîmes ein leichtes Spiel für ihren kraftvollen Endspurt sein würde.
„Doch der südliche Mistral-Wind machte ihnen dermaßen einen Strich durch die Rechnung, dass selbst der Toursieger Tadej Pogačar seine Teamkollegen brauchte, um den Tag zu überstehen. Der Kampf um eine geschützte Position kostet selbst große, kräftige Männer eine Menge Kraft. Erfahrene Fahrer wissen, dass sie ab dem Senken der Flagge vorne dabei sein und jede einzelne Lücke im Peloton beobachten müssen. Hast du erst einmal den Anschluss verloren und bist voll dem Seitenwind ausgesetzt, schaffst du es kaum noch zurück.“
Auch die technische Ausstattung spielt eine große Rolle. „Früher entschieden sich die meisten Fahrer für Laufräder mit maximal 35 mm Felgenhöhe“, sagt Brecht. „Die neueste Generation der ULTEGRA und DURA-ACE Laufräder ist jedoch aerodynamisch so gut, dass ich mich für die C50 (50 mm) Version entscheiden würde.
Bei den hohen Geschwindigkeiten, die erreicht werden können, ist eine tiefere Felge echt nützlich. Ich bin einmal während eines Rennens auf 70 km/h gekommen und diese paar Millimeter mehr machen in so einem Moment viel aus. Außerdem sollte man auf die Übersetzung achten: Vorne ein Kettenblatt mit 52 Zähnen reicht nicht aus. Ich würde mindestens ein 54er-Blatt wählen, um auch bei höheren Geschwindigkeiten noch Gas geben zu können. Und dann noch mein letzter Profi-Tipp: Ich würde einen Aero-Rennradhelm tragen, um auch noch den letzten marginalen Vorteil herauszuholen.“
Aggressive Fahrweise
Teams, die mit Seitenwind besonders gut zurechtkommen, fahren gerne aggressiv und lassen ihren Gegnern fast keinen Platz, um sich vor dem Wind zu schützen. So entstehen Windstaffeln, auch Echelons genannt (das ist Französisch und bedeutet „Leitersprossen”). In einem solchen Fall kann es ganz clever sein, einfach eine eigene kleine Windstaffel zu bilden.
„Denn die einzige Möglichkeit, bei Seitenwind mitzuhalten, besteht darin, die Position an der Spitze so nahtlos und schnell wie möglich zu wechseln”, erklärt Brecht. Im Idealfall wählt man ein Tempo, das knapp über dem liegt, das alle halten können, und der vordere Fahrer wechselt innerhalb weniger Sekunden die Position, indem er leicht zur Seite in den Wind fährt und sich dann bis ans Ende der Gruppe zurückfallen lässt. Die ideale Größe liegt bei etwa 14 Fahrern. Auf diese Weise kann die ganze Gruppe das Tempo halten und jeder Einzelne ist nur kurzzeitig dem Wind ausgesetzt.
Wenn du mit einer Gruppe von Freunden unterwegs bist, ist es gar nicht so schwer, im Windschatten des Vordermanns zu fahren. Problematisch ist nur, dass man normalerweise nicht die volle Breite der Straße nutzen darf. Deshalb ist es wichtig, möglichst gleichmäßig zu rotieren und bei Übernahme der Führungsposition nicht das Tempo anzuziehen oder die eigene Stärke unter Beweis stellen zu wollen. Nach kurzem „Ziehen“ oder Anführen fällt ein Fahrer an das Ende der Gruppe zurück und passt sich dem Tempo des letzten Fahrers an, um sich dort wieder einzureihen.
„Wenn du dafür trainieren willst, nimm am besten an Rennen teil, die für ihre Windstaffeln bekannt sind, und setze dich intensiv mit den Strecken auseinander“, fügt Brecht hinzu. „Verlass dich nicht allein auf das Roadbook: Sprich mit Fahrern oder erkunde selbst die Strecke, um zu wissen, wo mit Seitenwind zu rechnen ist. Wenn du wirklich Profi werden willst, hast du nicht nur einen Notizzettel mit den Bergen und Kopfsteinpflasterabschnitten an Vorbau oder Oberrohr geklebt, sondern dir auch die Abschnitte mit möglichem Seitenwind vermerkt.“
„Während eines Rennens können Loyalitäten schnell wechseln. Dabei zählt, wer weiter vorne liegt, wie groß der Abstand ist und wo ein Fahrer in der Gesamtwertung steht. Es kann also passieren, dass der Gegner vor dir erst versucht, dir zu helfen, und dich dann kurz darauf abhängen will.“
„Die Faustregel lautet, dass man in solchen Momenten mit möglichst vielen Fahrern des eigenen Teams an der Spitze sein sollte. Im Idealfall nutzt man sogar eine vorangehende Streckenpassage, um sich für den folgenden Seitenwindabschnitt zu positionieren. Ich erinnere mich an eine Etappe beim Kreiz Breizh Elites, einem Profirennen der Kategorie 2.2 in der Bretagne, bei der wir einen kurzen Anstieg über eine schmale Straße nutzten, um richtig positioniert zu dem Punkt zu kommen, an dem wir dann die Lunte zündeten.“
Brecht erzählt weiter: „Wir sammelten uns vor dem Anstieg und fuhren ihn dann so langsam wie möglich. Als wir oben ankamen und nach rechts abbogen, wussten wir, dass Seitenwind blasen würde und gaben Vollgas. Es ist einfach ein cooles Gefühl, wenn so ein Plan aufgeht und du merkst, wie die Fahrer hinter dir abgehängt werden.”
Der siegreiche Waaier
Ein weiteres berüchtigtes Beispiel für ein klassisches Staffelrennen (oder Waaierrijden, wie es die Belgier nennen) ist das Gent-Wevelgem 2015. 200 Fahrer traten an diesem Tag an und nur 39 von ihnen erreichten das Ziel. Es herrschte Windstärke 10, mit Böen von bis zu 80 km/h. Das führte zu einer Durchschnittsgeschwindigkeit in der Ebene, für die sich die meisten Profifahrer normalerweise schämen würden. An diesem Tag jedoch ging es schlichtweg ums Überleben.
Anständige Pacelines konnten kaum gebildet werden, da die Fahrer beim Versuch, die Geschwindigkeit stabil und ihre Räder aufrecht zu halten, zusammenstießen. Bradley Wiggins fiel auf die letzte Staffel zurück und sein Teamkollege Geraint Thomas landete in einem Graben. Er stand auf, fuhr weiter, positionierte sich gut und schaffte es schließlich auf das Podium. Diese Austragung des Radsportklassikers wurde von den belgischen Zuschauern zur beliebtesten in der Geschichte des Rennens gewählt – ein Beleg dafür, welche Begeisterung Seitenwinde bei Radsportfans hervorrufen können.
Jedes Mittel ist recht
Die heftigen Winde beim Rennen Gent-Wevelgem 2015 sind ein Paradebeispiel dafür, wie man Körper, Straße und Wind während eines Rennens zum eigenen Vorteil nutzen kann. So kann man im Windschatten fahrende Verfolger näher an den Straßenrand drängen – oder komplett ins Abseits befördern. Natürlich kann diese Technik auch gegen dich angewendet werden. „Wenn das passiert, solltest du ruhig bleiben und dir möglichst den breitesten Rücken suchen, den du finden kannst. Solche Rennen können sich plötzlich zu deinen Gunsten wenden. Gib also nicht auf, falls du den Anschluss zum Vordermann verlierst.”
Alles in allem sind Seitenwinde chaotisch und cool, denn sie verleihen den sonst so vorhersehbaren Etappen eine zusätzliche Dimension. Wenn du dich für eine Teilnahme an lokalen oder regionalen Rennen interessierst, solltest du damit umgehen können. Gelingt es dir dann noch, den Wind zu deinem Vorteil zu nutzen – und dabei spielt es keine Rolle, ob du in einer Ausreißer- oder größeren Gruppe fährst –, kannst du deine Ergebnisse enorm verbessern.
Folge dem Team Bataia und ihren Rennen auf Instagram.