Schon als kleines Mädchen wollte Wies Terryn Mechanikerin werden. Obwohl sie noch klein war, ermutigte ihr Vater sie dazu, ihr Rad selbst zu reparieren. Als erstes zeigte er ihr, wie man einen Reifen wechselt. Dann ließ er sie die Kette an ihrem Rad austauschen. Bald schon nahm sie ihre Fahrräder regelmäßig auseinander und setzte sie wieder zusammen, um mit jedem Mal mehr über die Funktionsweise zu lernen. Wenn etwas kaputt war, versuchte sie immer und immer wieder, es zu reparieren, bis es ihr schließlich gelang. Sie träumte davon, eines Tages selbst eine Fahrradwerkstatt zu führen.
Wenn es in ihrer Nähe ein Radrennen gab, besuchte sie es zusammen mit ihrer Familie. Als die Tour de France durch Belgien kam, fuhr sie mit dem Rad dorthin und sah zu, wie sich Marc Wauters das gelbe Trikot überstreifen durfte. Sie gewann Tickets, die eine Zeitung verlost hatte, und konnte zusehen, wie sich Mario Cipollini in Zolder den Weltmeistertitel holte.
Während dieser Zeit war sie auch als Leichtathletin sehr aktiv. Als Teenager zählte sie zu den 20 besten Läuferinnen in Belgien über die 800 Meter und die 1.500 Meter und reiste in ihrer Freizeit ständig zu den Wettbewerben. Doch dann erkrankte sie am Guillain-Barré-Syndrom und musste den Leistungssport aufgeben. Mit 17 Jahren waren ihre Beine und Arme zeitweise gelähmt. Also entschloss sie sich, zu studieren und Lehrerin zu werden.
Sieben Jahre lang stand sie in Klassenzimmern und unterrichtete die Kinder. Trotzdem gab sie ihren Kindheitstraum nie auf. Fahrräder und Sport faszinierten sie. Als im Fahrradladen Ghislain Cycles an ihrem Wohnort eine Stelle frei wurde, ergriff sie die Gelegenheit, gab den Job als Lehrerin auf und wurde Mechanikerin.
Das war nicht einfach. Sie war in dem Laden die einzige Frau, die an den Rädern arbeitete.
„Unsere Kunden taten sich schwer damit, mir Fragen zu stellen, weil ich eine Frau bin“, erzählt sie. „Es fiel ihnen leichter, mit meinen männlichen Kollegen zu reden. Ähnlich war es mit der Arbeit an sich – ich musste erst beweisen, dass ich es drauf hatte. Ich war in dem Laden die einzige Frau, die an den Rädern arbeitete. Die paar anderen Frauen dort arbeiteten im Büro, während ich mit den Männern in der Werkstatt schraubte. Damit die Männer akzeptierten, dass eine Frau den Job auch erledigen konnte, musste sie alles zweimal machen, was ein Mann nur einmal zu tun brauchte.“
Immer und immer wieder stellte Wies unter Beweis, dass sie die Arbeit beherrschte.
Nach ein paar Jahren wurde sie von der SEG Racing Academy kontaktiert. Sie suchten nach einem Rennradmechaniker für ihr niederländisches Entwicklungsteam und hatten gehört, dass sie vielleicht Interesse hätte. Und ob sie Interesse hatte! Für sie war das eine Chance, wieder in die Welt des Hochleistungssports zurückzukehren, die sie immer geliebt hatte.
Also kündigte sie in dem Fahrradladen und bekam einen Job in der Abteilung des technischen Service bei Ridley, sodass sie an den Wochenenden bei den Rennen arbeiten konnte. Zudem begann sie damit, an der Abendschule Kurse für Radmechaniker zu geben.
Mit der Zeit bei SEG verbindet sie viele schöne Erinnerungen. Ein Highlight waren die nationalen niederländischen Meisterschaften 2019 in Ede, wo sie für den Gewinner Fabio Jakobsen arbeitete, der mit Unterstützung seines früheren Teams antrat. Darüber hinaus ist sie stolz auf Fahrer wie Cees Bol und Jordi Meeus, mit denen sie arbeitete, als deren Karrieren noch in den Startlöchern standen, und die sich seither zu Spitzenprofis entwickelt haben. Für SEG Racing Academy zu arbeiten, fühlte sich an, wie nach Hause kommen.
„Man gehörte zum Team dazu“, erzählt Wies. „Wenn das Rad eines Fahrers top in Schuss war, hast du dich gefreut, dass er mit einem guten Gefühl über die Ziellinie fuhr. Du warst eines der Glieder in der Kette. Als Mechaniker im Team erlebst du alles: von der Vorbereitung bis zum Finish eines Rennens. Du empfindest alles mit den Fahrern mit.“
Die jungen Fahrer bei SEG waren von Wies' Arbeit begeistert. Alle, die es bis zur World Tour geschafft haben, kommen heute noch vorbei und sagen hallo, wenn sie Wies bei einem der Rennen sehen. Mittlerweile arbeitet sie für das SHIMANO Neutral Service Team.
Wegen der COVID-19-Beschränkungen gab es für sie nur wenige Rennen mit SEG.Sie bewarb sich bei verschiedenen Teams auf der World Tour, bekam jedoch von keinem eine Antwort. Keiner wollte ihr eine Chance geben. Bis einer der sportlichen Leiter von SEG sie Richard Groenendaal von SHIMANO vorstellte. Er nahm sie zu einem Rennen mit, um zu sehen, wie sie arbeitet.
„Für Richard war ein Rennen genug“, so Wies.„Er hat sofort gesehen, dass ich was kann. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“
Wies bekam den Job und war seitdem bei einigen der größten Rennen im Profiradsport für SHIMANO im Einsatz. Sie liebt den Druck. Sie liebt es, auf der World Tour zu arbeiten. Hier fühlt sie sich zu Hause.
„Unter Umständen hast du im Rennen nichts zu tun, doch im kritischen Moment, wenn du ein Rad wechseln musst, muss das perfekt laufen“, so Wies. „Du kannst dir keine Fehler erlauben.“
Wies ist immer noch die einzige Frau, die als Mechanikerin auf der World Tour arbeitet. Das ärgert sie. Fahrräder zu reparieren, gilt bei vielen immer noch als ein Männerjob. Aber Wies kennt sich mit Rädern aus. Sie weiß, wie man ein Laufrad zentriert. Oder ein Schaltwerk perfekt einstellt.
„Ich bin mir sicher, dass ich mehr drauf habe, als manche meiner männlichen Kollegen im Peloton“, meint sie. „Ich kann die Arbeit genauso gut wie sie oder sogar noch besser erledigen.“
Wies unterrichtet an der Abendschule und in ihren Kursen war bisher noch nie eine Frau dabei. Auch das ärgert sie.
„Frauen können genauso gut einen Männerjob übernehmen, wie auch Männer 'Frauenarbeit' erledigen können“, so Wies. „Es geht darum, einfach das zu machen, was du gerne tust.“
Ihr Rat an junge Mädchen, die Fahrräder lieben und gerne Mechanikerin werden möchten: „Probier es einfach aus. Es ist ein Fehler zu glauben 'Oh, das ist nur für Männer, also lass ich es lieber'. Probier es erst einmal aus. Trau dich einfach!“